4. Wohnformen
„Über lange Zeit haben sich Wohnen und Familie aufeinander zubewegt, bis die soziale Einheit des Wohnens, der Haushalt, wie selbstverständlich mit Familie assoziiert wurde. Jetzt beginnen sie wieder auseinander zutreten, so wie es auch früher neben Familien sehr unterschiedliche Haushaltsformen gegeben hat (Klöster, Stifte, Kollegien, Herbergen, usw.) (…) Aber sie belegen, dass sich Wohnen nach einer langen Phase der Nivellierung weiter wandelt in Richtung auf wieder vielfältige Differenzierung.“11
Nur 4 - 5 % aller alten Menschen leben im Altenheim. Umfragen haben ergeben, dass immerhin 12 % der Generation 60plus sich vorstellen können, später im Altenheim oder Seniorenstift zu leben. Je jünger die Befragten waren, desto weniger gaben das Altenheim als späteres Wohnziel an.12
In der Vergangenheit lebten ältere Menschen bis zu ihrem Tod meist im Verbund der Großfamilie, oft mit drei Generationen. Heute ist diese Wohnform eher selten, u.a. auch weil die Familien nicht mehr unbedingt an einem Ort leben (Multilokale Mehrgenerationenfamilie). Die traditionelle Großfamilie verliert immer mehr an Bedeutung. Das liegt zum einen an der demographischen Entwicklung und zum anderen daran, dass sich nur noch 10 % der Generation 60plus in Zukunft vorstellen können, gemeinsam mit ihren Kindern zu leben. 13
Mehr-Generationen-Modelle können bei intakten Familienbeziehungen allen zusammenlebenden Generationen Vorteile bieten, denn durch sie ist eine gegenseitige emotionale und instrumentelle Unterstützung prinzipiell möglich. Familiäre Mehr-Generationen-Modelle treffen jedoch auch auf Hindernisse. Das Aufeinandertreffen mehrerer Generationen mit ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen und -einstellungen birgt Konfliktpotential. Der Wunsch der jüngeren wie der älteren Generation nach „Intimität auf Abstand“ ist nicht immer realisierbar. Die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt erschwert das Zusammenleben der Familien zusätzlich. Die familiären Netzwerke von Familienmitgliedern, die für ein Zusammenleben in Frage kommen könnten, schrumpfen. Zukunftsfähig sind daher eher Wohnprojekte, bei denen mehrere Generationen von Menschen zusammenleben, die nicht unbedingt miteinander verwandt sind.
4.1 Neue Wohnformen
Immer mehr Menschen stehen vor der Entscheidung, wie sie ihr Leben im Alter strukturieren und gestalten sollen. Die meisten Senioren stehen vor der Aussicht, ihren Lebensabend alleine zu verbringen. Der Ruf nach neuen Alternativen jenseits von Alters- und Pflegeheim wir immer lauter. Die Mehrheit der Deutschen will jedoch zu Hause alt werden. Nach einer Meinungsumfrage sind für 54 % der befragten Menschen über 14 Jahren die eigenen, vertrauten vier Wände die bevorzugte Wohnform für den Lebensabend. 16 % sprachen sich der Erhebung zufolge für betreutes Wohnen aus. 8 % möchten in einer Senioren-Wohngemeinschaft leben.14
Das zunehmende Selbstbewusstsein der älteren Generation führt dazu, dass sich immer mehr alte Menschen gegen Entmündigungstendenzen in den stationären Einrichtungen der Altenhilfe wehren und nach alternativen Wohnformen mit mehr Selbstbestimmung und Selbständigkeit in der Lebensführung suchen. Dabei nehmen die älteren Menschen es selbst in die Hand, wie sie wohnen und leben möchten.
In Zukunft wird niemand mehr um Alternativen zu Pflegeheim und Seniorenresidenz herumkommen. Alleine wegen der Rentenentwicklung können sich viele Menschen die teure Rundumversorgung bald nicht mehr leisten. Selbstverwaltete Gemeinschaften sind preisgünstiger – weil die Zwischenverdiener fehlen. Noch fristen die Wohnalternativen für Senioren in Deutschland allerdings ein Nischendasein. Doch seit 1989 gibt es einen Zusammenschluss verschiedener Initiativen gemeinschaftlicher Wohnformen auf Bundesebene und das „Forum für gemeinschaftliches Wohnen im Alter“. Dieser Verein fördert, initiiert und vernetzt alternative Wohn- und Lebensformen für Ältere und jüngere Menschen. Ein weiteres Projekt, speziell für Berlin, von Heike Grünewald15 ist im Aufbau. Ein Netzwerk für Wohnformen der Generation 50plus.
4.1.1 Gemeinschaftliches Wohnen
Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Singularisierung und einem wachsenden Trend zum „Singl-Dasein“ werden zunehmend Formen gemeinschaftlichen Zusammenlebens diskutiert und erprobt:
Wohngemeinschaften beinhalten das Zusammenleben in einer gemeinsamen Wohnung, wobei jeder einen abgeschlossenen Wohnbereich hat. Bad und Küche werden gemeinsam genutzt. Die private Wohngemeinschaft ist in Deutschland im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern (Niederlande, Skandinavien) als Wohnform für das Alter noch eine relativ neue Erscheinung. In einer Bevölkerungsumfrage „Meinungen der Deutschen zu Wohngemeinschaften für ältere Menschen“16 waren 64 % aller Befragten der Meinung, es solle auch Wohngemeinschaften für nicht mehr ganz junge Menschen geben. Immerhin 18 % der über 60 jährigen würden, wenn sie die Wahl hätten, alleine oder in einer Wohngemeinschaft zu leben, das Leben in einer Wohngemeinschaft vorziehen.

Besser ist der Wohntyp der Hausgemeinschaft. Abgeschlossene Wohnungen, zusammen in einem Haus, bieten dem Einzelnen sowohl Rückzugsmöglichkeiten als auch nachbarschaftliche Begegnungen und Aktivitäten. Gemeinschaftsräume stehen zur Verfügung und Nachbarschaftsverbunde gewinnen an Bedeutung.
Eine Grundidee des gemeinschaftlichen Wohnens ist die gegenseitige Unterstützung der am Zusammenwohnen und Zusammenleben beteiligten Personen. Dafür gibt es kein Regelsystem, bei dem genau darauf geachtet wird, dass niemand zuviel oder zuwenig einbringt. Im Mittelpunkt steht die Freiwilligkeit und die Einsicht, das Notwendige zu tun, obgleich der Hilfeaustausch dauerhaft von einer Ausgewogenheit zwischen Geben und Nehmen abhängt. Gewinner sind nicht nur die Älteren, alle Generationen haben Vorteile davon.
Viele Menschen spüren ein starkes Bedürfnis, so etwas wie Familienersatz zu finden: „Wenn man rauskommt, rausguckt, begrüßt wird und immer jemandem zuwinken kann, da hat man doch so ein Gefühl, zu Hause zu sein“.
Das Bedürfnis, mit der älteren Generation zusammenzuleben, beschrieb eine Bewohnerin eines gemeinschaftlichen Wohnprojektes: „ Meine Eltern leben nicht mehr, und ich finde es für mich auch gut und wichtig, dass ich den Kontakt zu älteren Menschen auch noch habe und vielleicht auch was lernen kann, überhaupt sehe, wie ältere Menschen wohnen. Und dass meine Tochter das überhaupt kennenlernt mit älteren Menschen umzugehen“. Eine ältere Bewohnerin meinte: „Ich liebe das Leben, dass es qualmt, und das können nur die Jungen und die Kinder machen“. „(...) da ist es egal ob alt oder jung, entweder du hast einen Draht und findest die Leute spannend oder es ist nicht so (...).“ Den älteren Menschen gibt die Gemeinschaft ein größeres Maß an Sicherheit, Austausch und Lebendigkeit: „(...) man hört noch Geräusche im Haus, das finde ich immer ganz schön, dass Leben im Haus ist“. Ebenso können sie erleben, dass sie im Alter noch wichtig für andere sind, indem sie ihre Erfahrungen einbringen, um Rat gefragt werden, ab und zu auf die Kinder aufpassen oder einfach dazugehören. Der Wunsch nach Selbständigkeit, Eigenständigkeit und Unabhängigkeit taucht immer wieder auf. „Ich will mich nicht verwalten lassen, ich will autark bleiben, solange es geht.“ Dazu kommt, dass viele Menschen die Zustände in den Heimen katastrophal finden.
Die Jüngeren können von den Erfahrungen der Älteren profitieren. Für die alleinerziehenden Eltern bedeutet diese Wohnform eine Entlastung. Auch die Kinder profitieren von dieser Form des Zusammenlebens, weil sie mehrere erwachsene AnsprechpartnerInnen haben und „Ersatzgroßeltern“ finden können. Großeltern sind für die Entwicklung der Kinder von großer Bedeutung. Die Kinder werden kontaktfreudiger und offener, lernen besser auf andere zuzugehen. „Altersprobleme“ konzentrieren sich da, wo alte Menschen nur unter sich sind. Deutlich geworden ist, dass in diesen Mehrgenerationenprojekten die Hilfen nicht nur von den Jungen für die Alten geleistet werden, sondern auch umgekehrt und besonders auch von den Älteren für die Älteren.
Die Nachfrage nach Informationsveranstaltungen und Veröffentlichungen weist darauf hin, dass ein steigendes Interesse besteht. Die gegenüber früheren Generationen stark verlängerte Altersphase schafft verbesserte Vorraussetzungen für diese Wohnform: für einen Lebensabschnitt von 25 oder 30 Jahren kann es sich schon lohnen, noch einmal Neues zu beginnen und neue Gedanken zu denken.
Gemeinschaftliches Wohnen ist nicht für jeden geeignet. Es bedarf einer bestimmten Grundhaltung, damit ein solches Projekt funktioniert. Die Einstellung „kann sowieso nicht klappen, also ist es auch nicht ausprobierenswert“ führt zu Vorurteilen, die der Wohnform nicht gerecht werden. Menschen, die einer solchen Wohnform nicht offen gegenüberstehen, sind nicht förderlich für das Projekt. Auch wenn man sich für gemeinschaftliches Wohnen interessiert, sollte man die Erwartungen an das Leben in dieser Gemeinschaft realistisch sehen. Konflikte sollten direkt angesprochen werden, nicht erst wenn sie nicht mehr zu lösen sind. Meist geht es vor allem um Lärmbelästigung und unterschiedliche Vorstellungen von Sauberkeit. „Es ist ja kein Paradies, es ist halt Alltag.“17
4.1.2 Betreute Wohnformen für Kinder
In einer betreuten Kinderwohngruppe werden Kinder untergebracht, die bei ihren leiblichen Eltern aus verschiedenen Gründen nicht leben können. Das Jugendamt bringt die Kinder in verschiedenen Einrichtungen unter. Das können Fachverbände, die Mitglied des Diakonischen Werks der evangelischen Kirche sind, wie z. B. das Paul Gerhard Werk, von dem wir mehrere Einrichtungen in Berlin besucht haben, oder Vereine wie das SOS - Kinderdorf sein.
In einer Wohngemeinschaft wohnen 6 Kinder (manchmal auch bis zu 10 Kinder pro Gemeinschaft). Die Kinder wachsen koeduktiv und in verschiedenen Altersgruppen zwischen 2 - 15 Jahren zusammen auf. Kleinstkinder werden in der Regel an Pflegefamilien gegeben.
Die Kinder leben in Einzel- und Doppelzimmern mit angeschlossenen Gemeinschaftsflächen. Die Jugendlichen wechseln ab dem 16. Lebensjahr in den Verselbständigungsbereich, d.h. sie werden nur noch zeitweise betreut und wohnen unabhängig in einer abgetrennten Wohnung bis zur wirtschaftlichen Selbständigkeit. Ab 18 ist eine Nachbetreuung möglich, wenn der Jugendliche ausziehen möchte. Es gibt eine(n) innewohnende(n) Betreuer(in), die/der i.d.R. in einer abgeschlossenen Wohnung lebt, die der Gemeinschaft angeschlossen ist. Oft ist noch eine weitere private Wohnung vorhanden. Eigene Kinder können mitgebracht werden. Die Betreuer(in) ist als „Mutter/Vater auf Zeit“ zu sehen.
Das Leben außerhalb der eigenen Familie bedeutet jedoch nicht den Abbruch der elterlichen Kontakte, sie haben das alleinige Sorgerecht. Die Rückführung zu den Eltern wird sogar angestrebt, kommt jedoch in der Realität selten vor. Häufiger erfolgt die Unterbringung in einer Wohngemeinschaft bis zur wirtschaftlichen Selbständigkeit. Der Kontakt zu den leiblichen Eltern wird unterstützt und gefördert. Ebenso die Wiederherstellung der Beziehung und das Wiederherstellen der Freude auf die Eltern. Dabei ist Klarheit wichtig: das Kind muss wissen, wo es hingehört.
Die leiblichen Eltern können in diesen Fällen oft nicht binden und nicht halten: häufig alleinerziehend, wechselnde Väter, Probleme mit Alkohol und Tabletten, niedriges Bildungsniveau etc. Sie sind aus psychischen Gründen nicht in der Lage, für ihre Kinder zu sorgen.
Die Integration von Wahlgroßeltern wurde in unseren Befragungen von Betreuern und Pädagogen als positiv erachtet. Dafür müssten allerdings bestimmte Voraussetzungen bestehen. Ältere Betreuerinnen bzw. pensionierte Betreuer könnten als „Oma“/ „Opa“ erhalten bleiben, da Erfahrung bzw. Qualifizierung zum Teil notwendig werden. Die Integration von Älteren in Sachen schulischer Nachhilfe könnte hilfreich sein.
Mehrere Wohngemeinschaften sind sinnvoll, da sich die Betreuer austauschen könnten und eine übergreifende Betreuung möglich wäre. Die Isolation im Haus fällt weg, die Gruppe hat auch für die Kinder keinen Sonderstatus mehr. In der sozialräumlichen Integration ist der Kiez einfacher als die bürgerliche Gegend. Schwierig ist auch die Integration in Krisengebieten, wo die Arbeitslosigkeit und Kriminalität sehr hoch ist. Hier besteht die Gefahr, dass Jugendliche sich derartige Lebensinhalte „abgucken“ könnten.
Die betreuten Wohngruppen werden i.d.R. vom Jugendamt finanziert. Die SOS Kinderdörfer ersetzen 50 % durch Spenden. Die Kostensätze, die das Jugendamt leistet, liegen bei ca. 34.000 € im Jahr.
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11 Häußermann, Siebel, Soziologie des Wohnens, 199612 Umfrage Spiegel Special 1999: „In welcher der folgenden Wohnformen würden sie am liebsten im Alter leben?“13 Umfrage Spiegel Special 1999: „In welcher der folgenden Wohnformen würden sie am liebsten im Alter leben?“14 Umfrage Spiegel Special 1999: „In welcher der folgenden Wohnformen würden sie am liebsten im Alter leben?“15 Projektleiterin des Verbands für sozial-kulturelle Arbeit, Landesgruppe Berlin e.V.16 forsa (Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH) im Auftrag von Gruner & Jahr, Redaktion Brigitte Woman, 200117 Umfrage der Autoren in verschiedenen GemeinschaftsprojektenSelbstinitiierte Hausgemeinschaften , Kuratorium Deutsche Altershilfe 1997
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